Erwin Hapke
Dr. Erwin Hapke (1937-2016), hinterlässt nach seinem Tod eine museale Gesamtkomposition von vielen tausend Faltobjekten, die er unbemerkt von der Öffentlichkeit in einem alten Dorfschulgebäude über 3 Etagen thematisch und formal arrangiert hat. Im Nachlass finden auch ein bisher unausgewertetes Konvolut von Skizzen, Zeichnungen, Faltanleitungen und theoretischen Überlegungen, in denen er sich einerseits auf die Tradition von Isao Honda beruft, andererseits aber auch die Techniken des Faltens zu erweitern sucht, um seinem imaginativen Ausdruckswillen ein Medium zu schaffen.
Ein virtueller Rundgang im Haus des Künstlers ist hier möglich.
Gefaltete Zeit
Ein karges Leben fernab der Gepflogenheiten und des Komforts der bürgerlichen Existenz, ohne Internet, Radio, Fernsehen, ohne Kontakte zur Außenwelt, ohne Einkommen oder Krankenversicherung lebte Erwin Hapke seit 1981 bis zu seinem Tod im Frühjahr 2016 in selbst gewählter Klausur. Ein Sonderling, ein Grenzgänger, der trotz seiner akademischen Meriten als promovierter Biologe, ebenso stur wie leidenschaftlich eine künstlerische Mission verfolgte.
Unter seinen Händen wuchs in einer alten Dorfschule im Kreis Unna über Jahrzehnte ein gefaltetes Universum – wie bei Leibniz im Traum der Monaden, die fensterlos dennoch die ganze Welt in sich zur Erscheinung bringen. Der Zauber und die Mannigfaltigkeit dieses einzigartigen Werkes lassen sich in keinem Medium einholen. Hapke spielt sich faltend durch alle Sphären des Seienden, von formalen, symbolischen und abstrakten Strukturen, über Insekten zu Säugetieren, von Szenen der Mitmenschlichkeit zu kulturellen Objekten vom Pflug bis zur Kathedrale spannen sich seine Motivreiche. Dazu nutzt er jegliches Papier, das ihm unter die Händen kommt, von Zeitungspapier mit Todesanzeigen, über bräunliches Packpapier bis zu farbigem Papier vom Discounter.
Der Strenge der Formprinzipien erwachsen die schier unendlichen Varianten in Morphologie und Farbe. Hapke erteilt uns damit eine Lektion des Wahrnehmens, denn sein Werk verlangt uns Muße und Verweilen ab. Dann aber entweicht der zarten Seele des Papiers eine ungeahnte Tiefenzeit, die uns anrührt und ein beinah verschollenes Heimweh nach der Wirklichkeit wachruft, das uns in den Zeiten digitaler Informations- und Bildgewitter beinah abhanden gekommen ist.
»Eine leise weiße Spur« steht auf einen Papierstreifen in der winzigen Handschrift des Verstorbenen. Platon, der von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt war, misstraute der Schrift, da sie wichtige Gedanken einem vergänglichen Träger, dem Papier überlassen muss, und auch mit den Augen einer Restauratorin ist die Lebensleistung Hapkes akut gefährdet. Und dennoch haftet dem Werk in poetischer Hinsicht ein Hauch von Ewigkeit an.
Ein Künstlerleben in seinen Mühen und Zweifeln, Visionen und Passionen übersetzt sich in fragile Figuren und überbordende Installationen, in denen sich intellektuelle Konzeption und akribische manuelle Ausführungen manifestieren. Die Zeichenspur führt vom Leben ins Papier und birgt dort das Geheimnis unseres Daseins.